Weserbergland/Idomeni. Im Morgengrauen haben sich Dewezet-Chefredakteurin Julia Niemeyer und Chefreporter Ulrich Behmann am Freitag in Hameln aufgemacht. Das Ziel ist Idomeni, das 100-Seelen-Dorf an der griechisch-mazedonischen Grenze. Fluchtpunkt für Tausende. Niemeyer und Behmann suchen nach Antworten auf eigene Fragen – und auf die Fragen unserer Leser. Bei ihrer Ankunft scheint alles ruhig zu sein. Am Sonntag ändert sich die Situation schlagartig. Ihre Eindrücke halten sie per Blog, Foto und Video fest: Momentaufnahmen aus dem Lager.
Weserbergland/Idomeni. Im Morgengrauen haben sich Dewezet-Chefredakteurin Julia Niemeyer und Chefreporter Ulrich Behmann am Freitag in Hameln aufgemacht. Das Ziel ist Idomeni, das 100-Seelen-Dorf an der griechisch-mazedonischen Grenze. Fluchtpunkt für Tausende. Niemeyer und Behmann suchen nach Antworten auf eigene Fragen – und auf die Fragen unserer Leser. Bei ihrer Ankunft scheint alles ruhig zu sein. Am Sonntag ändert sich die Situation schlagartig. Ihre Eindrücke halten sie per Blog, Foto und Video fest: Momentaufnahmen aus dem Lager.
Es gibt nicht viel, was für Idomeni spricht. Das Lager an der griechisch-mazedonischen Grenze ist ein Provisorium aus wackligen Zelten und Verschlägen, die beim nächsten Regenguss erneut im Matsch versinken werden. Die Räumung ist angekündigt. Für heute, morgen oder irgendwann. Und der einzige Weg, den hier jeder gehen will, der Weg über die Grenze, ist versperrt.
Wir fragen uns, warum die Menschen immer noch hier sind. Warum nehmen sie keinen der Busse, die bereitstehen, um sie in die angeblich besser ausgestatteten offiziellen Lager zu bringen? Das Angebot ist bekannt, genau wie die Tatsache, dass ohne Registrierung kein legaler Weg in die Zukunft führt.
Warum also Idomeni? Das fragen wir wieder und wieder. Aber eigentlich müssen wir nicht fragen, um zu verstehen. Es reicht, den Menschen zuzusehen.
Freitag, 8. April:
Idomeni ist eine Endstation, die keine sein will. Wir sehen fußballspielende Kinder, eine öffentliche Teeküche und ein Begegnungszentrum, vor denen die Menschen zusammenstehen und reden. Und viele freundliche Helfer, die ihr Bestes tun, um der Grenzsituation ein bisschen Normalität zurückzugeben. Tänze werden organisiert, Gruppen von Kindern spielen mit Frauen in leuchtenden Warnwesten. Es gibt kostenlosen Tee und kleine Beutel mit glitzernden Haargummis, die uns stolz präsentiert werden. Jemand verteilt Bananen und lächelt dabei.
Ein paar Männer tanzen vor einem Pavillon zu lauten arabischen Klängen. Frauen kochen Eier über offenem Feuer. Auf den Bahnschienen stehen viele bunte Zelte. Wer Glück hatte, konnte einen Platz in einem der alten Eisenbahnwaggons ergattern, die auf einem Abstellgleis vor sich hin rotten.
Wir fragen eine Ärztin, die für das griechische Gesundheitsministerium in Idomeni im Einsatz ist, wie die offiziellen Informationen verbreitet werden. Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass niemand den Offiziellen glaubt. Glauben tun die Menschen hier anderen, die „Jemand“ heißen. Jemand hat gesagt, die Grenze werde geöffnet. Es ist leicht zu glauben, was man hofft, und tröstlich, sich diese Hoffnung gegenseitig zu bestätigen.
Nur wenige geben die Hoffnung auf. Ein paar Hundert sollen es inzwischen sein, die das Lager freiwillig verlassen und den Bus in eins der offiziellen Camps genommen haben. Eine von ihnen ist die 21-jährige Ayat aus Aleppo. Sie sei zu müde, um noch länger hierzubleiben, sagt sie, kurz bevor der Bus nach Alexandria abfährt. Die Hoffnung, über die Grenze zu kommen, hat sie aufgegeben. Die Hoffnung, irgendwann nach Deutschland reisen zu können, bleibt. In Stuttgart wartet ihr Mann auf sie. „Ich muss noch warten“, sagt sie.
Es wird Abend in Idomeni. Die fliegenden Händler packen ihre Waren ein. Erdbeeren, Kartoffeln, Zitronen, Zwiebeln, Tabak. Über den Bergen braut sich etwas zusammen. Als es dunkel wird, fallen dicke Regentropfen, es blitzt am nachtschwarzen Himmel. Morgen wird sich das Camp wieder in eine Schlammwüste verwandelt haben.
Immer mehr Feuer brennen in der Zeltstadt. Verbrannt wird alles, was brennt. Bäume, die einst hier wuchsen, sind längst abgeholzt worden. Die Bauern sind sauer, sie können ihre Felder nicht bestellen, weil ihre Äcker besetzt wurden. Einer hat aus Protest ein paar Zelte untergepflügt. Das Gerücht macht die Runde, das die Polizei das Lager noch an diesem Wochenende räumen wird.
Die Polizei ist wachsam. Sie zeigt Präsenz, fährt mit Blaulicht in den Dörfern rund um Idomeni Streife. Jeden Tag passiere hier etwas, sagt Nikos, unser Taxi-Fahrer. Erst gestern hätten die Flüchtlinge die Europastraße blockiert und die Öffnung der Grenze gefordert. Andere hätten versucht, den Grenzzaun einzureißen.
Samstag, 9. April:
Es ist ein Wechselbad der Gefühle. 30, 40 Tage oder schon länger harren sie auf Bahnschienen und auf Äckern aus. Sie gehen nicht weg von diesem Ort, weil sie zuversichtlich sind, dass der Grenzzaun doch noch geöffnet wird. Das Prinzip Hoffnung lässt sie nicht völlig verzweifeln.
In der Zeltstadt ist es ungewöhnlich ruhig. Die Stimmung ist gut. Männer grillen Auberginen, Frauen machen Konserven heiß. Dicke Bohnen in Tomatensoße sind beliebt. Kinder spielen Fußball. Junge Leute lachen. Wildes Campen – fast schon romantisch. Alles verläuft in geordneten Bahnen. Die Zeltstadt ist nicht verdreckt. Es gibt Dixi-Klos und Duschcontainer. Nur hier und da riecht es streng nach Urin und Schweiß.
Obwohl es regnet, versinken wir nicht im Schlamm. Der Boden ist mittlerweile festgetrampelt. Wir hatten Schlimmeres erwartet.
Über uns kreist seit Stunden ein Polizeihubschrauber. Die Heli-Cops schauen sich jede Menschengruppe aus der Luft genauer an.
Neue Schutzsuchende kommen so gut wie gar nicht mehr nach Idomeni. Nur sehr selten kämen hier noch ein paar Neue an, sagt George, ein Freiwilliger aus Holland, der gemeinsam mit Gleichgesinnten täglich 20 Kisten Bananen einkauft und die Früchte dann im Camp verteilt. Die Polizisten, die wir an der Zufahrt zum Camp treffen, grüßen uns nett.
„Morgen gehen wir über die Grenze“, erzählen uns mehrere Flüchtlinge in Idomeni. Bis zum Abend verdichten sich die Hinweise: Helfer berichten von einer geplanten Demonstration. Angeblich sind Flugblätter im Lager verteilt worden. Ort und Zeit sind bekannt – und wir vor Ort, als sich die Menschen am nächsten Morgen nahe der Grenze versammeln.
Sonntag, 10. April:
Entschlossen und ruhig, scheinbar gut organisiert, viele mit gepackten Taschen, geduldig im Sonnenschein auf den Bahngleisen: Irgendwann setzt sich der Zug in Bewegung, wie auf Kommando. Wir laufen hinterher. Sehen, wie die ersten Demonstranten Mund und Nase mit Tüchern bedecken und Kurs auf den Zaun nehmen. Ein erster lauter Knall übertönt den Lärm der Menge. Wir laufen schneller. Hunderte bleiben hinter uns zurück, als wir das freie Feld vor der Grenze erreichen. Aus sicherer Entfernung sehen sie zu, wie sich der Strom der Entschlossenen auf dem Acker verteilt und vorwärts strebt.
Dann überschlagen sich die Ereignisse, wie Julia Niemeyer in ihrem Blogbeitrag festhält.
In den nächsten Minuten lerne ich viel und schnell. Dinge, die ich hoffentlich nie wieder brauchen werde. Die Flugbahn einer Tränengas-Granate abschätzen. Wo wird sie explodieren? Aus welcher Richtung weht der Wind? Wie schnell und wohin muss ich laufen, um dem beißenden Rauch zu entkommen?
Ich denke nicht nach, als die ersten Verletzten vom Feld getragen werden. Verwirrt sehe ich mir selbst dabei zu, wie ich den Auslöser drücke. Ein Mann mit rotem Gesicht, der japsend in der Sonne liegt. Ein weinendes Kind. Hustende Menschen. Steinewerfende Demonstranten, Panzer hinter dem Zaun, ein kreisender Militärhubschrauber. Eine Situation außer Kontrolle.
„They want to kill us“, sagt jemand neben mir. Ich schüttele den Kopf und schreibe meinen Tweet. „They kill us!“, seine Stimme zittert. Ich drücke auf Senden und sehe ihn endlich an. Ein junger Mann, zu jung, um so viel Angst zu haben. „They dont’t want to kill you“, sage ich, „they are afraid.“
Ulrich Behmann fasst die Ereignisse des Tages am späten Abend so zusammen:
War das ein Tag. Er endete schlimmer als erwartet. Augen brennen, Gesicht auch. Haut ist gerötet. Folgen der explodierenden Tränengas-Granaten, die die mazedonische Grenzpolizei seit heute Mittag auf Griechenland abfeuert.
Dass es so heftig werden wird, haben wir nicht gedacht. Ein Arzt aus Irland sagt, so schlimme Szenen habe es in Idomeni noch niemals zuvor gegeben. Ich stelle mir die Fragen: Warum hat die griechische Polizei nur zugeschaut? Warum hat sie nicht wenigstens versucht, den Ansturm auf den Grenzzaun zu verhindern? Wir haben einige Mannschaftsbusse gesehen, aber höchstens vier Dutzend Polizisten gezählt.
Es ist passiert, was passieren musste. Verzweifelte wollen den Grenzzaun überwinden. Sie werfen mit dicken Steinen. Mazedonische Polizisten antworten mit Tränengas und Pyrotechnik. Es sollen auch Gummigeschosse abgefeuert worden sein. Blendgranaten explodieren.
Ich kann verstehen, dass Mazedonien seine Grenzen verteidigt. Ich kann auch nachvollziehen, dass die Flüchtlinge das Warten satt haben.
Aber Gewalt ist kein guter Begleiter. Damit macht man sich keine Freunde. In Griechenland und in Mazedonien nicht – und auch nicht in Deutschland.