Keine Gefahr für Deutschland, heißt es noch Tage nach dem Super-GAU von Tschernobyl. Aber Regenwolken bringen die radioaktiven Teilchen nach Westen und damit auch ins Weserbergland. 30 Jahre danach strahlt manches noch immer – vor allem im besonders betroffenen Bayern.
Zuerst treibt die Wolke nach Norden. An einem Atomkraftwerk in Schweden wird erhöhte Radioaktivität gemessen. Alarm. Doch der Meiler läuft ohne Störung. Die Radioaktivität kommt aus dem Osten – aus dem am 26. April 1986 explodierten Kraftwerk Tschernobyl. In Finnland, in Polen und in der DDR steigen die Werte.
Politiker in Deutschland betonen unisono: keine Gefahr. Der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) sagt in der Tagesschau drei Tage nach dem GAU, eine Gefährdung sei „absolut auszuschließen“. „Denn eine Gefährdung besteht nur in einem Umkreis von 30 bis 50 Kilometern um den Reaktor herum.“ Und: „Wir sind 2000 Kilometer weg.“
Im Weserbergland hat sich die Lage entspannt
Dann dreht der Wind. Plötzlich gibt es erhöhte Radioaktivität auch in Westdeutschland. Fußballspiele werden abgesagt, Freibäder und Spielplätze gesperrt, Sandkästen geleert, Gemüse untergepflügt. In den Supermärkten: Sturm auf Dosen. Frisches ist tabu. Wer nach Hause kommt, zieht die Schuhe aus und duscht, um keinen verseuchten Staub in die Wohnung zu tragen. Hausbesitzer laufen mit Geigerzählern durch ihre Gärten, die Messgeräte sind ausverkauft. Kinder dürfen nicht draußen spielen. Wenn es regnet, laufen die Menschen in Panik wie um ihr Leben wegen des Fallouts, den niemand recht einschätzen kann.
Bundesweit am schlimmsten trifft es Bayern, dort wiederum Gegenden, über denen zufällig an den ersten Maitagen 1986 schwere Gewitter niedergehen: Landstriche in Schwaben, im Bayerischen Wald und im Süden Oberbayerns sind betroffen. Auch 30 Jahre nach der Katastrophe werden dort manchmal bei Wild und Pilzen Werte um ein Vielfaches über dem Grenzwert gemessen. „Ganz krass ist es bei den Wildschweinen“, sagt Christina Hacker, Vorstandsmitglied beim Umweltinstitut München, das nach Tschernobyl als Verein gegründet wurde. Wildschweine lieben Hirschtrüffel; sie fressen Egerlinge – und die im Wald teils belastete Erde mit dazu. „In allen sauren Böden kann sich das Caesium 137 oberflächennah halten. Deshalb gibt es die Problematik in Wäldern und Mooren.“ Caesium 137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren. Gerade einmal die Hälfte davon ist also zerfallen. Es dauere zehn Halbwertzeiten, bis der frühere Zustand annähernd wiederhergestellt sei, sagt Hacker. In Feldern ist das radioaktive Isotop ausgespült, mehrfach untergepflügt und in tiefere Schichten gewandert. Getreide, Gemüse, Salat oder Milch und Fleisch außer Wild sind ohne erhöhte Werte.
In Niedersachsen hat sich die Lage 30 Jahre nach dem Super-GAU weiter entspannt. Bei Wildpilzen gab es in den vergangenen zwei Jahren keine Grenzwertüberschreitungen, wie das Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (Laves) mitteilt. Bei Rotwild sind die Werte nach Angaben von Dr. Klaus Schnarr seit Jahren konstant rückläufig und liegen durchweg unter dem Grenzwert von 600 Becquerel. Dr. Schnarr ist in Hannover Fachbereichsleiter für Rückstandsanalyse und Leiter der Strahlenmessstelle. Einzig bei Wildschweinen gebe es auch in Niedersachsen regelmäßig Ausreißer, die den Wert von 600 Becquerel überschreiten – allerdings ausschließlich im Harz. Für das Weserbergland gibt er Entwarnung: „Alles im grünen Bereich.“
Stichproben des bayerischen Landesamtes für Umwelt weisen in Pilzen und Wildschwein aber noch manchen Spitzenwert aus: Wildpilze aus Garmisch-Partenkirchen, gemessen am 18. Dezember 2015: Weißer Rasling 4900 Becquerel und Birkenpilz 3000 Becquerel pro Kilo. Wildschwein aus Nürnberg vom 17. September 2015: 1200 Becquerel. Oder vom 13. Mai aus dem schwäbischen Landkreis Ostallgäu: 2100 Becquerel. Nahrungsmittel, deren Werte über dem Grenzwert liegen, dürfen nicht verkauft werden, sonst drohen Strafen. Bei Milchprodukten und Babynahrung liegt der Grenzwert bereits bei 370 Becquerel. Jäger bekommen für belastetes Wild eine Entschädigung.
Das bayerische Landesamt für Gesundheit teilt mit: „Nach einer Risikobewertung des Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR) gehört Wildbret wegen der niedrigen Verzehrsmenge zu den Lebensmitteln mit geringer Bedeutung.“ Die Schweiz untersage die Weiterverarbeitung erst ab 1250 Becquerel. Auch das bayerische Landesamt für Umwelt gibt Entwarnung. „Die durch Tschernobyl verursachte Strahlenexposition von außen spielt heute praktisch keine Rolle mehr“, teilt eine Sprecherin mit. Die genauen Folgen des GAUs kennt allerdings niemand. Die Kindersterblichkeit sei danach signifikant erhöht gewesen, sagt Hacker. Auch von mehr Schilddrüsenerkrankungen werde berichtet. Ein Zusammenhang liege nahe, sei aber nicht erwiesen. Manches, glaubt Hacker, hätte vermieden werden können, wenn es die „Beschwichtigungspolitik“ nicht gegeben hätte. „Die Behörden haben viel zu spät reagiert.“ Der damalige bayerische Umweltminister Alfred Dick (CSU) aß vor laufenden Kameras demonstrativ verstrahltes Molkepulver, um die Ungefährlichkeit zu beweisen. Gewollt hat die Molke trotzdem niemand. Ein Geisterzug rollte damit lange durch Deutschland, ehe die Molke in einer eigens gebauten Anlage vernichtet wurde. In der Folge erstarkten die Grünen. Die Anti-Atombewegung formierte sich. Doch erst 25 Jahre später führte die Atomkatastrophe von Fukushima, obwohl sie Deutschland nicht direkt betraf, zum parteiübergreifenden Bekenntnis zum Atomausstieg. Der geht den Umweltorganisationen viel zu langsam. In vielen Städten fordern sie zum Jahrestag den sofortigen Ausstieg. Demonstrationen gab es nach Angaben von Umweltgruppen bei Landshut am AKW Isar 2, in Neckarwestheim, bei Ahaus, Gundremmingen, Brokdorf und im belgischen Lüttich. Gerade der Terror verschärfe die Gefahr, sagt Hacker. „Es gab immer wieder Hinweise, dass Atomkraftwerke ausgespäht worden sind. Insofern ist es umso wichtiger, dass man sich von der Atomenergie schleunigst verabschiedet.“