Steinbergen (wm).
Mitten in der Nacht brüllt Ilona los, die Windeln müssen gewechselt werden, außerdem hat Ilona Hunger. Eine Stunde später schreit das Baby erneut: Es muss ein Bäuerchen machen. Draußen dämmert der Morgen, begrüßt vom Krähen des "kleinen Monsters".
So sieht das inzwischen nämlich die "Mutter", 14 Jahre alt und Bewohnerin des Jugendhofes Hirschkuppe in Steinbergen. Es ist ein Test. Denn das Baby ist weder ein Baby, noch die 14-jährige "Mutter", real ist dafür das nächtliche Geschrei, das Windelwechseln, Fläschchengeben und der ganze übrige Streß.
"Babybedenkzeit" heißt das Programm, mit dem Hirschkuppen-Leiter Jürgen Kruska und seine pädagogischen Mitarbeiter ihren Heiminsassen, Jungen und Mädchen im Alter bis zu 19 Jahren klar machen wollen, dass Babys nicht nur süß und zum Knuddeln sind. Vielen Mädchen, sei da zum ersten Mal klar geworden, "wenn du einen Säugling hast, kannst du ja keine Nacht mehr ruhig schlafen." Kruska: "Die haben ernsthaft gedacht, ein Kind legt man mit Beginn der Tagesschau ins Bett und muss sich bis zum Morgen nicht mehr darum kümmern."
Wie schnell gerade junge Menschen ohne Lebenserfahrung an ihre Grenzen kommen, erlebte ein Junge, der völlig entnervt nach einer durchwachten Nacht versucht habe, das Baby mit einem Kissen zu "ersticken". Am nächsten Morgen, erzählte Kruska, habe der Junge "schweißnass" und völlig fertig mit den Nerven beim Psychologen im Haus seine Tat gestanden: "Das wird einem Jugendlichen schnell klar, dasser mit der Rolle eines Vaters hoffnungslos überfordert wäre."
Das Baby ist eine lebensechte Puppe die computergesteuert weint und schreit, aber auch zufrieden glucksen kann, wenn man sie beruhigt und wickelt. Das Baby muss husten und kann aufstoßen, eben wie ein richtiger Säugling. 15 verschiedene Testläufe sind einstellbar - auch per Zufallsprogramm. Klar ist auch, das Baby muss überall mit hingenommen werden - eben wie ein richtiger Säugling. Der Computer registriert dabei die Bemühungen der "Eltern", also beispielsweise wie langedas "Baby" geweint hat, bis sich die "Mutter" darum gekümmert hat, oder ob es gar in einer Stresssituation brutal geschüttelt worden ist.
Den Hintergrund des Programms, das nach einer Testphase inzwischen erfolgreich in der Hirschkuppe angewandt wird, erläuterte Heimleiter Jürgen Kruska so: Im Gegensatz zu den insgesamt rückläufigen Geburten steige die Zahl der minderjährigen Mütter. Eine Erfahrung, die auch "Pro Familie" bestätigt. Kruska: "Wir hatten schon eine 12-Jährige, die schwanger war." Gründe dafür gibt es mehrere: Junge Leute nehmen Verhütung nicht mehr ernst oder sind nicht richtig informiert, beispielsweise über die "Pille danach". Bei Mädchen könne der Kinderwunsch sogar alles andere verdrängen, schilderte Kruska, vor allem in bestimmten Milieus. Hier wirke die "Babybedenkzeit" manchmal Wunder: Wenn ein Mädchen oder Junge die Säuglingspuppe übernimmt, bekommen sie dazu eine "Geburtsurkunde", und dürfen dem Kind einen Namen geben.
Parallel dazu wird der Projektteilnehmerin deutlich gemacht, welche Verantwortung sie mit einem Baby auf sich nimmt undüber alle Fragen aufgeklärt, die auch im realen Leben auftauchen würden, beispielsweise: Welche Erstausstattung braucht in Säugling? Was kostet ein Kind tatsächlich im Monat? Welche gesundheitlichen Probleme können auftreten?
Das Projekt, so sieht es Kruska, sei eine Gradwanderung zwischen Aufklärung und Abschreckung. Man habe in der Hirschkuppe die positive Erfahrung gemacht, dass Mädchen (wie Jungen), die ein paar Tage oder sogar mehrere Wochen lang mit dem "Baby" leben mussten. zu der Erkenntnis gekommen seien, Kinder ja, aber erst späteren Jahren, denn "zurzeit sind wir damit überfordert".
Wer das "Baby"übernommen hat, kann es nicht einfach per Knopfdruck ausschalten, Wer nicht mehr klarkommt, muss das Problem anders lösen. Dafür gibt es - wie im realen Leben - eine anonyme "Babyklappe". Nicht selten komme es vor, so Kruska, dass die "Mutter" hinterher mit schlechtem Gewissen den Pädagogen ihrScheitern beichte. Die zweite Möglichkeit sei die "Freigabe des Babys zur Adoption". Dann arrangieren die Pädagogen eine Sitzung, wie sie auch in einem Jugendamtes stattfinden würde, das über eine Freigabe entscheiden würde.