Bückeburg.
"Zum Trauern und Nachdenken blieb damals keine Zeit", blickt Karl Niederbracht aus Meinsen auf ein schreckliches Erlebnis kurz vor Weihnachten 1945 zurück. Und auch heute noch, 60 Jahre danach, fällt dem 76-Jährigen die Erinnerung an den Mord in seinem Hause schwer.
Es war der 18. Dezember 1945, wenige Monate nach dem Einmarsch der Amerikaner. Karl Niederbracht, damals 16, saß mit seinem Vater, der Mutter und einer drei Jahre älteren Schwester abends um acht in der kleinen Wohnstube des elterlichen Gehöfts. Zwei Zimmer weiter hielten sich die Großmutter und der Großvater auf. Alle im Haus waren nervös und angespannt. Seit Monaten hatte es in der Umgebung immer wieder Einbrüche und Raubüberfälle gegeben.
Plötzlich waren draußen Schüsse zu hören. Der Vater riss das Fenster auf, taumelte jedoch im nächsten Moment blutüberströmt in die Stube zurück. Jemand hatte ihm von draußen mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Seine Frau und die beiden Kinder rannten nach nebenan in die Küche. Von dortging eine Tür raus auf den Hof. Auf der Schwelle lag, blutüberströmt und von zwei Kugeln im Kopf getroffen, der Großvater. Die Rettungsversuche im Bückeburger Krankenhaus blieben erfolglos. Den Beginn des Weihnachtsfestes erlebte der 80-Jährige nicht mehr.
Der Mord an dem alten Mann war zu jener Zeit kein Einzelfall. In den ersten Tagen und Wochen nach Kriegsende habe es mancherorts eine Art "rechtsfreien Raum" gegeben, heißt es in einer Studie des Historikers Gerd Steinwascher. Das war angesichts des Durcheinanders von Einheimischen, Evakuierten, Heimatvertriebenen und so genannten "heimatlosen Ausländern" (Displaced Persons/DPs) kein Wunder.
Allein die Zahl der hungernd und frierend in und um Bückeburg herum in ihren Baracken hausenden Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen wird auf zwei- bis viertausend geschätzt. Nochmals doppelt soviel soll es im Raum Minden direkt hinter der Kreisgrenze gegeben haben.
Etliche von ihnen gingen bei der Suche nach Lebensmitteln mit großer Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Neben zahllosen Fahrrad- und Viehdiebstählen sowie hunderten von Plünderungen wurden zwischen April und Dezember 1945 im damaligen Kreis Bückeburg fünf Todes- und elf Vergewaltigungsfälle gezählt.
Die Lage besserte sich auch nicht, als Mitte 1945 das Groß der Russen und Westeuropäer in ihre Heimatländer zurückgeschafft worden war. Im Gegenteil. Jetzt machten die Insassen der im Laufe des Spätsommers eingerichteten "Polendörfer" die Gegend unsicher. In Frille waren knapp 3000 und in Cammer an die 1300 Menschen zusammengepfercht.
Besonders gefährdet waren einsam gelegene Bauernhöfe - so wie das Anwesen der Niederbrachts in den "Meinser Kämpen" zwischen Mittellandkanal und Schaumburger Wald. Wer hier wohnte, war auf sich allein gestellt. Ein Telefon hatten die Leute auf dem Lande damals noch nicht. Die Kanalbrücken, über die hätte Hilfe kommen können, waren gesprengt. In jedem Haus bezog nachts einer der Erwachsenen auf dem Dachboden Posten. Darüber hinaus hatten die Nachbarn eine Art Einsatzwehr organisiert. Überall lagen Signalhörner bereit. Bei Alarm rannten die Männer mit Schaufeln und Äxten herbei. Die Niederbrachts waren besonders auf der Hut. Wenige Tage vor dem Mord waren Unbekannte in den Stall eingedrungen.
Der Mord an Karl Niederbracht und die meisten anderen Verbrechen jener Zeit wurden nie gesühnt oder aufgeklärt. Der deutschen Polizei waren die Hände gebunden. Die Gendarmen durften erst ab 1946 wieder Waffen tragen. Und auch die Besatzer sahen lange tatenlos zu. "Wir haben die DPs hier nicht hergeholt" bekamen die Niederbrachts von den Engländern zu hören.