Minden/Porta Westfalica. Mit nur einer Handvoll Plattenveröffentlichungen hat Mattias Voß alias Lord Scan aus Minden der Hip-Hop-Szene seinen Stempel aufgedrückt. Unverkennbar ist sein extravaganter Sound aus elektronischem Funk, der von Künstlern wie Kritikern auch Jahre nach seinem letzten Album schmerzlich vermisst wird. Darüber hinaus hat er in Minden das Graffiti-Festival „Hack & Lack“ ins Leben gerufen. Unsere Zeitung hat den 36-Jährigen besucht.
Das kleine Haus in Porta Westfalica erinnert an das Zuhause von Janoschs kleinem Tiger und dem kleinen Bären. Auf einer Anhöhe gelegen, umgeben von gutbürgerlichen Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten, ist es mit seinem völlig verwachsenen Garten von der Straße aus kaum zu sehen. Vom Grundstück aus hat man zur Linken das Kaiser-Wilhelm-Denkmal, zur Rechten den Fernsehturm im Blick. Oh, wie schön ist Panama.
Die Sonne strahlt an diesem Tag im Mai. Lord Scan steht an einer Werkbank unter freiem Himmel und schleift alte Zementfliesen, die er vor Kurzem günstig bei Ebay ersteigerte. In den zwei Jahren, in denen er nun in dem angemieteten, von Anfang an stark renovierungsbedürftigen Haus wohnt, hat er aus der Not heraus, sich handwerkliche Fertigkeiten aneignen zu müssen, einen Spleen für altes Baumaterial und längst vergriffene Elektronikartikel entwickelt. „Natürlich ist das auch zwanghaft von mir, aber ich mag die Ästhetik“, sagt er. Stolz präsentiert er später seine eindrucksvolle Sammlung alter Bakelitschalter, wie Dr. Deistings Dickhäuter.
Für das Interview tischt der 36-Jährige unter einem großen Walnussbaum Kaffee und Kuchen auf. Seine Lockenpracht von einst ist einer pflegeleichten Fünf-Millimeterrasur gewichen, und unter der Carhartt-Jacke zeichnet sich inzwischen ein kleiner Bauch ab. Der stämmige Mindener ist ein freundlicher, auf sympathische Weise leicht unsicher wirkender Gastgeber.
In seinem Zuhause deutet wenig auf den Fame (engl. Ruhm) hin, den sich Lord Scan als Rapper, Musikproduzent und Graffiti-Künstler seit den späten 90ern erarbeitet hat. Werkzeuge, alte Elektrogeräte und Leinwände prägen das Bild. Einen Fernseher gibt es nicht. Neben einem CD-Player liegt eine gebrannte CD: das erste Album des Wu-Tang Clans von 1993. „Es ist ja auch ein geiles Album“, sagt Lord Scan, als müsse er sich dafür rechtfertigen.
Scans letztes Album, das Soloalbum „Ich bins“, liegt inzwischen zwar auch schon neun Jahre zurück. Aber die Lobeshymnen von namhaften Künstlern und Kritikern auf seine eigenwilligen, funkinspirierten und vor elektronischen Sounds strotzenden Produktionen reißen nicht ab. So wie Lord Scan klang keiner vor ihm. Und keiner mehr nach ihm.
Davon abgesehen hat der Scanner mit dem Graffiti-Festival „Hack & Lack“ in Minden einen enormen Kulturbeitrag für die Region geleistet, der von den hiesigen Kulturträgern noch viel zu wenig gewürdigt wird. Jedes Jahr kommen Graffiti-Koryphäen aus ganz Deutschland zum Anne-Frank-Kreativzentrum und verpassen dem von Lord Scan & Co. in Eigenleistung zusammengezimmerten „Schiefe-Bahn-Express“, einem plastischen Nachbau eines Zuges, einen neuen Anstrich. Etliche Künstler zeigen ihr Können auf Freiflächen, und Hunderte von Besuchern kommen einfach, um zu staunen und einen guten Tag zu haben. Geld verdient Lord Scan damit keins.
Für was ist es gut, wenn du nichts tust, sondern nur zusiehst / und am Ende was ganz anderes machen musst, als dir im Blut liegt? - „Cool zu wissen“ (2000)
Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit Graffiti- und Illustrationsaufträgen sowie mit einem wöchentlichen Graffiti-Workshop für Kinder im Jugendzentrum in Vlotho. Gemeinsam mit einem Freund hat der Diplom-Designer dort, wie bereits vor 19 Jahren in Minden, die erste „Hall of Fame“ (engl. Ruhmeshalle) initiiert, eine Freifläche, auf der Graffiti-Künstler legal sprühen können. Reich wird er damit nicht. „Ich will einen Zustand erreichen, in dem ich selbst über Projekte entscheiden kann“, sagt er. „Mein Freiheitswille ist sehr groß.“
Nach seinem Studium in Münster arbeitet Lord Scan zwei Jahre lang in einer Agentur in Bremen „als grafisches Mädchen für alles – bis mir die Sicherung durchgeknallt ist“. Immer nur am Computer zu sitzen und für das Geld anderer Leute zu arbeiten, ohne seine eigenen Ideen voll umsetzen zu können? Enttäuscht kündigt er. Es ist eine von mehreren Bauchlandungen im Leben von Mattias Voß.
Ich werde, wie ich werden will, und bleibe, was ich bin. - „Chiefrockers Remix“ (1999)
Als Kind ist er viel allein, verbringt seine Zeit hauptsächlich mit Zeichnen. Lange ist sein bester Freund sein Bleistift. Bis er Hip-Hop für sich entdeckt: die Fernsehsendung „Yo! MTV Raps“ und Graffiti. Eine Sternstunde ist 1994 eine Hip-Hop-Jam in Bielefeld, die er mit seinem Freund Michael S. Kurth, der später als Rapper Curse bekannt wird, besucht. Lauter Rapper, DJs, Sprayer und Breakdancer, die ihre Kunst präsentieren, sich gegenseitig kritisieren und herausfordern. Das kennt er bis dahin nur aus dem Fernsehen. Da will er dazugehören. Hip-Hop gibt seiner Kreativität eine neue Richtung.
Doch als er ein Jahr später, mit 16, ein Austauschjahr in den USA macht, landet er irgendwo im Nirgendwo von Arkansas. Mit Hip-Hop braucht er da niemandem zu kommen. Ein halbes Jahr verbringt er fast nur in seinem Zimmer, wird depressiv. „Während dieses Abschnitts habe ich sehr viel gegrübelt und mir bewusst gemacht, was ich in Zukunft erreichen will und vor allem, was mein Leben ausmacht“, sagt er über diese Zeit in einem Interview mit allesreal.de.
Endlich wieder zurück in Minden wird aus seiner Clique von etwa 20 Mann der Klan, „eine Meute von romantisch verklärt Hunderten“, erzählt er lachend. Die Speerspitze dieses losen Haufens von Hip-Hoppern bildet die Rap-Crew Der Klan, bestehend aus den Rappern Italo Reno, Germany und Lord Scan. Letzterer rappt nicht nur, sondern zeichnet auch für die Beats verantwortlich.
Gemeinsam mit Zugpferd Curse, der sich in der Szene bereits einen Namen gemacht hat, bestreiten sie erste Auftritte mit imposanter Bühnenpräsenz und liefern erste Beiträge zu verschiedenen Rap-Compilations. Unterdessen schustert Lord Scan erste Remixe zu Rap-Klassikern, wie „Harte Zeiten“ von La Familia oder „Heiß wie Feuer/Kalt wie Eis“ von DJ Stylewarz, und arbeitet mit an Curse’ Debütalbum.
Schließlich landet Der Klan bei dem Plattenlabel „Put Da Needle To Da Records“ und veröffentlicht die grandiose EP „Ultimate Chiefrockers“. Ein Jahr später folgt das Album „Flashpunks“: ein irres Potpourri aus Battle-Rap, Zoten und jugendlicher Lebensweisheiten, gespickt mit jeder Menge Lokalpatriotismus.
Das Album, das maßgeblich Lord Scans Handschrift trägt, macht zwar einige Furore (und wird vor allem im Nachhinein für seine Originalität gewürdigt), aber was damals kaum einer weiß: Den Klan gibt es zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr.
Noch während des Aufnahmeprozesses zeichnet sich ab, dass die Crew-Mitglieder vielleicht dasselbe Ziel verfolgen, aber mit unterschiedlicher Herangehensweise. „Ich wohnte damals in der Hahler Straße in einer WG, die war dann oft gerappelt voll, und wir haben Musik gemacht und gefeiert, bis dann um Mitternacht plötzlich alle weg waren, um woanders weiterzufeiern. Aber ich habe lieber weiter an dem Album gearbeitet“, erzählt Lord Scan.
Kannste dir vorstellen, wie schmerzlich das ist? / Du opferst alles, wasde hast, für deine Freunde, und die merken‘s nich’?! - „Flashbacks Teil 2“ (2006)
Auf die Dauer fühlt sich der Scanner dadurch im Stich gelassen. „Aber umgekehrt habe ich durch meinen krankhaften Ehrgeiz vielleicht auch den Eindruck erweckt, das Ruder an mich reißen und alles alleine machen zu wollen“, sagt er.
Es werden noch ein paar gemeinsame Auftritte absolviert, um das Album zu bewerben, dann trennen sich die Wege von Italo Reno und Germany, die an der Seite von Curse noch einige Platten veröffentlichen, und Lord Scan, der völlig von der Bildfläche verschwindet.
Bis 2006. Aus dem Nichts heraus veröffentlicht Lord Scan über sein eigens dafür gegründetes Label „Schädelbasis Export“ das 18-Tracks-starke Soloalbum „Ich bins“, das er komplett in Eigenregie auf die Beine stellt: Raps, Beats und aufwendiges Artwork. Es ist ein neuer Lord Scan, der sich auf diesem Wahnsinn von einem Album präsentiert, vielleicht mehr Mattias Voß als Lord Scan. Die Stimme klingt weicher, die Texte sind streckenweise weitaus persönlicher als noch zu Klan-Zeiten, die er mit schonungsloser Offenheit reflektiert.
In der Szene verpufft das Album zwar weitgehend unbeachtet, die Aufgeschlossenheit für sperrigen oder experimentellen Rap wird erst wieder mit Marteria und Casper geweckt. Aber für Lord Scan ist damit ein schmerzliches Kapitel endlich abgeschlossen. Und er hat sich selbst bewiesen, zu was er alleine alles in der Lage ist.
Neben seinem Studium widmet er sich wieder stärker dem Graffiti. Und als er 2009 endlich mal wieder seinen Geburtstag feiern will, lädt er zum Anne-Frank-Kreativzentrum in Minden – Motto: „Grillen und Lackieren“. Unter den Gästen befinden sich schon damals namhafte Graffiti-Künstler, die ihren Teil zu einer dermaßen guten Party beitragen, dass sie im Folgejahr wiederholt werden soll. Das Graffiti-Festival „Hack & Lack“ ist geboren. Und Minden um eine Kulturveranstaltung reicher. In diesem Jahr geht das „Hack & Lack“ in die siebte Runde: am 13. Juni, der Eintritt ist frei.
Mit zwei gleich gesinnten Freunden hat Lord Scan jetzt auch sein Label Schädelbasis Export wieder ins Leben gerufen. Gleich mehrere Veröffentlichungen soll es geben: unter anderem unveröffentlichte Demo-Aufnahmen aus dem Jahr 1997.
Vor 15 Jahren wurde Lord Scan von Curse als „verrückter Tüftler und Multitalent“ gewürdigt, der sich doch bitte treu bleiben möge. Lord Scan ist sich treu geblieben. Und das kann nur, wer sich wandelt.