Bückeburg (bus).
Manchmal, so verrät uns ein
Sprichwort, sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ein anderes Mal nehmen wir etwas Wunderbares nicht wahr, da wir ihm beinahe täglich begegnen. Dann ist es nichts Besonderes mehr, sondern eben eine Alltäglichkeit. Gerade in der ehemaligen Residenzstadt passiert das immer wieder. Nehmen wir zum Beispiel das Schlosstor: Die Pracht dieses Bauwerks schmückt die Stadt zwar ungemein, ist dem gewöhnlichen Bückeburger aber kein Anlass, tagtäglich vor Ehrfurcht zu erschauern. Der Kulturatlas "Entdeckung von Landschaft" gibt ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass es auch anders geht.
Der von Oliver Glißmann verfasste Beitrag "Die Weserrenaissance, eine spezifische Spur in Beispielen" führt dem Bückeburger Leser anschauungsvoll vor Augen, woran er Tag für Tag vorbeigeht (und vorbei sieht). Vor allen Dingen im Kapitel "Das Schlosstor" hat der Historiker ganz genau hingesehen:
"Die rundbogigeÖffnung ist fünf Meter hoch und hat eine Fase, die im Wechsel mit Halbkugeln und Diamantquadern besetzt ist. Jeweils zwei ionische Termenpilaster zu beiden Seiten des Bogens tragen den mächtigen Architrav, zeugen aber von einer gewissen Labilität, da sie sich nach unten verjüngen. Zwischen jedem Pilasterpaar befindet sich je eine ionische Säule mit Schaftbeschlag, die so weit vor dem eigentlichen Tor steht, dass sie stark mit dem Architrav verkröpft ist. Über dem Architrav finden sich kleine, mit Krabben besetzte Postamente, auf denen Kugeln sitzen, die die Säulen bekrönen. Dahinter, auf der Mauer des Bogens, sitzen Obelisken, die einen weiteren, abschließenden Akzent setzen. So wird die Senkrechte der Säule über den Architrav gezogen.
Des Weiteren findet sich eine Betonung der Mitte,ähnlich den oberen Abschlüssen der Termenpilaster. Auch sie wird durch eine geringe Verkröpfung des Gebälks über dasselbige weitergeführt, um schließlich in einem Postament auszulaufen. Das Postament steht in einem gesprengten Giebel, welcher nur im oberen Abschnitt durch ein Gesims in Karniesform geschmückt wird." Und: "Die Postamente der Pilaster sind aufwändig mit Halbkugeln geschmückt, während, entsprechend schlicht, die Postamente der Säulen Diamantquader aufweisen. Ebenso sind die Obelisken durch Einschnitte, aufgelegte Rechtecke, Voluten und einer aufgelegten Blütenform durchgestaltet. Die Grobform des Bogens steht im Anklang an antike Triumphbögen, aber auch Einfluss von Ehrenpforten, die in der Renaissance Bestandteil von Festdekorationen waren, machen sich im Schmuck bemerkbar."
Da hätten wir doch um ein Diamantquaderchen das Tor vor lauter Postamenten und Pilastern nicht gesehen. So kann's einem ergehen mit dem Alltäglichen. Jetzt wissen wir endlich, was wir sehen, wenn wir demnächst mit vor Staunen offenem Mund vom Marktplatz zum Schlossareal wechseln. Und ebenfalls erfreulich: Nun verfügen wir auch über die passenden Worte, um das Wahrgenommene stimmig zu umschreiben.
Übrigens:
Das Tor hat im November 2005 heimlich, still und leise seinen 400. Geburtstag gefeiert. Es wurde von Mai bis November 1605 errichtet. Im Folgejahr erhielt es seine dekorative Ausschmückung, 1607 die von "zwei Wurmern" flankierte Figur der Invidia. Die Eselsohrige soll den "Neid und die sonstigen Auswüchse des gesellschaftlichen Zusammenlebens" versinnbildlichen. Nur ist das eine andere Geschichte.